Ich als alter Mode-Experte kenne die goldene Regel für gute Schnäppchen: antizyklisch kaufen. Die richtige Zeit für den neuen Jetski ist November, und im August kauft man am besten Streusalz, zur Not kann man das ja auch aufs Frühstücksei kippen. Und weil mir dieses Prinzip so gut gefällt, machen wir das jetzt auch für diesen Eintrag. Heute soll es nämlich um ein Thema gehen, das uns vermutlich erstmal vier Jahre nicht mehr beschäftigen wird: das Tempolimit.

Das Tempolimit war eines der großen Themen des vergangenen Bundestagswahlkampfes, oder zumindest wurde es medial zu einem wichtigen Thema gemacht. Und abgesehen vom totalen Fleischverbot, das ja nur noch eine Frage der Zeit sein kann, wenn man den nächtlichen Unkenrufen lauscht, ist das Tempolimit wohl das emotionalste Thema der Deutschen, wann immer es um Klimaschutz geht. Alles, was mit unserem liebsten Statussymbol – dem Auto – zu tun hat, wird zum Kulturkampf. Wenn man mal “Populismus Tempolimit” online sucht, wird dieser gleichzeitig der CSU und den Grünen vorgeworfen.

Seit einigen Wochen ist ja nun klar, dass die kommende Bundesregierung höchstwahrscheinlich eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP sein wird. Die SPD und die Grünen hatten in ihrem Wahlprogramm ein allgemeines Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen versprochen. Als Gründe hierfür führten sie Umweltschutz, Lärmreduktion und niedrigere Unfallzahlen an. Die FDP hingegen war im Wahlkampf deutlich dagegen – sie nannten ein Tempolimit  “weder progressiv noch nachhaltig” und “pauschale Einschränkungen des Individualverkehrs […] keine Lösung. Intelligente und innovative Verkehrslenkung bietet hingegen enorme Möglichkeiten.” Als es dann neulich in die Sondierungsgespräche ging, war das Tempolimit ganz schnell vom Tisch – die FDP hatte sich durchgesetzt. Für Grüne und SPD war es schnell entbehrlich: ein Tempolimit wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Interessanterweise wären derzeit 60% der Deutschen dafür – die Unterstützung der Öffentlichkeit wäre also wohl eher gegeben.

Aber es kommt nicht, und damit bleibt Deutschland wohl auch weitere vier Jahre ein Außenseiter in dieser Hinsicht. Deutschland ist de facto das einzige Land der Welt mit gutem Straßennetz, auf dem man zumindest in großen Teilen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung fahren darf. KFZSachverstand.de – im Übrigen ein fantastischer Name für eine Website – schreibt, dass neben Deutschland sonst nur auf der britischen Insel Isle of Man, in einigen indischen Bundesstaaten, in Nepal, Myanmar, Burundi, Bhutan, Afghanistan, Nordkorea, Haiti, Mauretanien, Somalia und dem Libanon kein Tempolimit herrsche. Ein Artikel von Auto Motor Sport vom September 2021 erklärt wiederum, dass zumindest in Afghanistan tatsächlich maximal 90 km/h erlaubt seien, und dass in Nordkorea PKW in Privatbesitz eh irrelevant seien, und die Straßen mehr als 100 km/h auch nicht hergäben. Ich hab jetzt nicht für jedes andere Land dieser Liste nachgeschaut, aber wir können einfach mal davon ausgehen, dass das für alle genannten Länder zutrifft. Ihre Infrastruktur erlaubt vermutlich nicht, so entspannt auf 200 km/h und mehr zu beschleunigen wie in Deutschland. Wie der Autor der Auto Motor Sport daher schreibt:  “Das[s] Deutschland bisher kein generelles Tempolimit eingeführt hat, ist weltweit ein Alleinstellungsmerkmal.” Aber inwiefern das jetzt weiterhin ein Argument GEGEN ein Tempolimit in Deutschland ist, müsste er für mich noch ergänzen. Verlangt vielleicht der Arbeitgeber.

Allein auf weiter Flur. Quelle: Süddeutsche

Ein kleiner Einschub: wenn ich von einem Tempolimit spreche, beziehe ich mich überwiegend auf ein solches auf deutschen Autobahnen. Hier darf grundsätzlich ja so schnell gefahren werden wie gewünscht, mit der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h. Tempolimit-Vorschläge hierfür drehen sich meistens um 130, 120 oder sogar 100 km/h. Es werden auch Tempolimits auf Landstraßen diskutiert, die dann bei 80 km/h statt derzeit 100 km/h lägen, sowie innerorts 30 km/h statt 50 km/h. Gut, nun weiter im Text.

Dem ADAC wurde das ganze Thema „Tempolimit“ zuletzt zu bunt, und er sprach sich für eine “Versachlichung der Debatte” aus. So ganz sachlich zu sein kann ich nicht versprechen – aber machen wir doch mal ein gutes altes Pro und Kontra.

Es spricht dabei auf der einen Seite nämlich schon etwas FÜR ein Tempolimit. Da wäre einerseits der Grund, wieso das Thema zuletzt wieder aufgekommen ist: mit einem Tempolimit wird weniger Benzin verbraucht, damit werden die CO2-Emissionen im Autoverkehr gesenkt. Der Verkehrssektor hat es in Deutschland seit 1990 nicht geschafft, seine Emissionen zu senken, und hinkt unseren Klimazielen damit noch mehr hinterher als der Rest des Landes. Von den jährlich 165 Mio t CO2 in diesem Sektor könnte ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen laut einer aktuellen Studie des Umweltbundesamtes knapp 6,2 Mio t. einsparen, das wären 3,7%. Bei 120 km/h wären es 2,9 Mio t, also ca. 1,8%, und bei 130 km/h entsprechend 2,2 Mio t. – 1,4%. Zur Wahrheit gehört aber, dass eine einzelne Studie keine vernünftige Datenlage darstellt – es ist noch nicht viel zu den Umweltauswirkungen eines Tempolimits geforscht worden. In jedem Fall bewegen wir uns also im Prozentbereich, und das ist erstmal nicht wahnsinnig eindrucksvoll. Also lassen wir es sein? Nein – mit dieser Logik müssen wir eigentlich gar keinen Klimaschutz betreiben, weil Deutschland ja auch bekannterweise nur 2,5% des weltweiten CO2-Ausstoßes aufweist. Aber wie auch hier gilt für das Tempolimit: wenn niemand anfängt, kommen wir auch nie auf 100%. Und, wie auch Harald Lesch neulich deutlich machte: ein Tempolimit wäre eine quasi kostenfreie Möglichkeit, eben auf einen Schlag 2 Millionen Tonnen CO2 einzusparen. Es wäre ein gutes Zeichen dafür, dass man auch gewillt ist, solche emotionalen Themen anzugehen, wenn sie schnell etwas zum Klimaschutz beitragen, zumal ein Tempolimit so einfach umzusetzen wäre.

Neben dem Klimaschutz werden oft noch weitere mögliche Vorteile eines Tempolimits angeführt, darunter eine geringere Lärmbelastung, niedrigere Unfallzahlen und weniger Straßen- und Reifenabrieb. Geringerer Lärm und Straßenabrieb wären hierbei nur logische Folgen, und schon nett. Zu den Unfallzahlen hingegen bestehen wenige verlässliche Studien. Diese sind in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten durch sicherere Autos bereits deutlich gesunken. Die meisten Unfälle geschehen auf Landstraßen und nicht auf Autobahnen, und Unfälle liegen zudem nicht nur am Tempo, wobei dieses den Bremsweg und die Aufprallwucht erhöht. Den oft herangezogenen Vergleich mit anderen Ländern mit Tempolimit, die dennoch höhere Unfallzahlen hätten, halten Verkehrsforscher jedoch für wenig aussagekräftig und für keine sinnvolles Argument gegen ein Tempolimit. Grundsätzlich erscheint eine Senkung der Unfälle – vor allem jener mit Todesfolge – durch ein Tempolimit aber denkbar, ist nur eben bisher (noch) nicht nachgewiesen.

Gefunden auf twitter.

So, und dann gibt es einige Argumente gegen ein Tempolimit.

  • Da wäre erstens, dass es in Deutschland eh kaum unbegrenzte Strecken gebe. Das kann man jetzt so und so sehen: auf knapp 70% aller deutschen Autobahnen herrscht kein Tempolimit. Aus eigener Erfahrung würde ich die Zahl wirklich unbegrenzt befahrbarer Strecken aufgrund von Dauerstaus und Baustellen vermutlich ein bisschen niedriger ansetzen, aber selbst dann ist man bei weit über der Hälfte. Anders herum: wenn es wirklich kaum freie Strecken gäbe – welchen Unterschied würde dann ein Tempolimit machen?
  • Viele Freunde der Innovation und Gegner von Regeln und Verboten – also, die FDP – argumentieren statt eines Tempolimits lieber für eine digitale und intelligente Verkehrsführung. Gut, das ist sicherlich nicht schlecht, aber ja auch irgendwie ein Totschlagargument. Man muss gar nichts mehr regulieren, wenn nur die schlauen Bits und Bytes das für uns regeln. Die Innovation ist ja immer das Deux Ex Machina. Als Ergänzung für dieVerkehrswende ist die Digitalisierung wichtig, aber als Gegenargument für ein Tempolimit zählt das für mich nicht.
  • Noch ein ganz wichtiges Argument für unsere Freunde in Gelb: Freiheit!. Im Jahr 1974 startete der ADAC eine Kampagne mit dem Slogan “Freie Fahrt für Freie Bürger” – ein Zitat, das auch heute eben diese FDP und auch die AfD nutzt, wenn es um das Tempolimit und die Verkehrswende geht. Letztlich sehen sich alle, die mit Freiheit argumentieren, in ebendieser beschränkt, wenn sie weniger rasen dürfen. Stimmt ja auch. Wenn ich etwas nicht mehr machen darf, hab ich weniger Freiheit. Aber was ist das für ein Verständnis von Freiheit? Alles machen zu dürfen, was man will, klingt für mich sehr nach Kindergarten. Denn eigentlich sollte uns doch allen klar sein: meine Freiheit endet dort, wo ich die Freiheit anderer Menschen einschränke. Wenn mein Handeln zu unangemessenen negativen Folgen für die Gesundheit Anderer führt – ob durch direkte Unfälle, durch Lärm, oder durch die Klimafolgen meines Handelns – dann ist mein Handeln nicht mehr gerechtfertigt. Ich gebe dann also einen Teil meiner Freiheit auf, um die Freiheit anderer Menschen auf ein gesundes Leben zu ermöglichen. Ich meine, das steht in Artikel 2 unseres Grundgesetzes: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt.” Oder um Jan Böhmermann aus seinem neulichen Herbsthit zu zitieren: “Warum ist Heroin verboten, aber 260 fahren erlaubt?” Heroin fährt immerhin keine Kleinwagen zu Klump.
Ja ja, niemand mag Jan Böhmermann. Aber der Song knallt. Quelle: ZDF Magazin Royale

Gut, was haben wir noch.

  • Der große Elefant im Raum ist sicherlich die Macht und Bedeutung des Autos in Deutschland. Hierzulande liegt knapp jeder 50. Arbeitsplatz – ca. 700.000 Jobs – in der Automobilindustrie. Dabei stellt diese weniger kleine Flitzer, sondern vor allem komfortable Autos her, die es entspannt und ohne abzuheben auf über 130 km/h schaffen. Wenn wir ein Tempolimit hätten, wären die im Grunde nicht mehr nötig, und das könnte dem bestehenden Portfolio deutscher Autohersteller gefährlich werden. Dazu kommt, dass Autos einfach ein Statussymbol in Deutschland sind, und Statussymbole müssen teuer und schick sein. Teure und schicke Autos will man dann aber nicht zügeln müssen, die müssen sich mal richtig ausfahren können! Brumm! Das sind für mich jetzt nicht so die sinnvollen Argumente: man könnte auch die Leistung der Autos an die neuen Gegebenheiten anpassen und gut ist – das würde im Übrigen auch Ressourcen bei der Herstellung von Autos sparen. Die sind in den letzten Jahrzehnten eh immer größer geworden, was zwar auch eine erhöhte Sicherheit im Auto mit sich brachte, allerdings auch viel mit Prestige zu tun hatte und die Effizienzgewinne der Motoren in dieser Zeit wieder zunichte machte. Bei kleineren Autos müsste man sich allerdings damit abfinden, sein Einkommen anders zu präsentieren. Das könnte man aber auch einfach grundsätzlich sein lassen, nur so eine Idee.
  • Ein letztes Argument ist recht neu, und kommt erst im Zuge der immer noch schleppend, aber doch langsam wachsenden Elektroauto-Flotte in Deutschland auf. Bei Elektroautos mache es nämlich keinen Unterschied, ob sie 200 km/h fahren oder 120 – sie hätten ja eh keine Emissionen. Das sagte zum Beispiel neulich Armin Laschet: “Warum soll ein Elektrofahrzeug, das keine CO2-Emissionen verursacht, nicht schneller als 130 fahren dürfen? Das ist unlogisch.” Das stimmt natürlich erst, sobald unser Strommix komplett emissionsfrei ist – bis dahin bedeutet mehr Stromverbrauch auch mehr Emissionen. Gemäß Verkehrsforscher Andreas Knie sind das beim aktuellen Strommix 50 g CO2 pro Kilometer für das Elektroauto versus 125 g CO2 für den Verbrenner..

Letztendlich laufen alle Contra-Argumente doch auf ein gemeinsames Fazit hinaus: Ein Tempolimit hätte eine kleine Wirkung, und ist daher ideologische Symbolpolitik. Der Autor des genannten Auto Motor Sport Artikels schließt seinen Artikel mit den Worten: “Die Einführung eines generellen Tempolimits auf deutschen Autobahnen hätte weltweit eine hohe Symbolwirkung – die Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung gehört zu den Markenzeichen Deutschlands. Die erhofften Effekte in Sachen Unfallzahlen und Klimaschutz dürften hingegen zwar vorhanden, aber eher niedrig sein.” Und ich glaube, damit zieht er ein völlig anderes Fazit als ich aus demselben, wichtigen Punkt.

Natürlich ist das Tempolimit Symbolpolitik, genauso wie das Verbot von Plastikstrohhalmen vor zwei Jahren. Im großen Bild macht es nur einen kleinen Schritt aus, aber wenn wir nicht bereit sind, solche schnellen und einfachen Veränderungen anzugehen, um CO2 einzusparen, wie ernst meinen wir es dann mit der Verkehrswende und gesellschaftlichen Transformation? Wie stolz kann man auf unbegrenztes Tempo als Alleinstellungsmerkmal seines Landes sein – wofür steht das? Was für eine Freiheit soll das sein, die wir da propagieren? Jan Böhmermann fragte in seinem schmissigen Ohrwurm zentral: “Wieso nehmen wir Brumm Brumm eigentlich noch in Kauf?”, und ich halte das für die richtige Frage. 

Wir haben in Deutschland einen abstrusen Diskurs über das Tempolimit. Es scheint nur starke Befürworter und absolute Gegner zu geben, und niemand kommt sich eine Wagenlänge entgegen. Die autofreundlichen Interessensgruppen wollen kein Tempolimit, aus Gründen, und mit der Autolobby will sich niemand in der Politik so richtig anlegen. Deshalb kommt das Thema alle Jahre wieder auf den Tisch und wird schnell weggefegt, wie auch in den derzeitigen Koalitionssondierungen. Dabei gäbe es sicherlich Wege hin zu einem Tempolimit, das mit diesen Rahmenbedingungen vereinbar ist. Deshalb mache ich einfach mal einen Vorschlag zur Güte: Wie wäre es denn zum Beispiel mit einem Tempolimit von 120, ach ich bin großzügig, 130 km/h, für alle Benziner und Dieselautos? Wer hingegen Elektroauto fährt, darf 180 fahren. Damit komme ich auch Armin Laschet entgegen. Gern geschehen, Armin. So eine Regelung reduziert zwar die Unfälle, Lärmbelastung und den Straßenabrieb auf Autobahnen nicht, aber wer weiterhin die Freiheit mit 180 Sachen in die Fresse geballert kriegen will, kann das dann mit einem schicken Tesla machen. Vielleicht wäre das ein guter Weg, die schleppende Elektromobilität ins Laufen zu bringen – möglicherweise vor allem bei denjenigen, die sonst als letztes auf ein Elektroauto umsteigen würden, weil Diesel so schön männlich riecht. Und bevor da wieder die soziale Frage rausgeholt wird – Raserei ist kein Menschenrecht, schon gar nicht in der heutigen Lage. Wer sich noch kein Elektroauto leisten kann oder will, fährt leider erstmal nur 130. Die ganze Welt kommt damit zurecht; ich denke, das können wir auch. Und als kleiner Servicetipp zum Schluss: ein ICE fährt bis zu 300 km/h. Na, wenn das mal keine Freiheit ist.

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