Während ich das hier schreibe, sind es draußen – Moment, ich schaue in den Wetterbericht:

38°C, gefühlt 42°.

Also, ja, sehr warm.

Und mir geht’s gut! Klar, ist schon unangenehm draußen, aber ich muss ja nicht zwangsläufig das Haus verlassen. Der Kühlschrank kühlt das Wasser, das aus dem Hahn kommt, und zur Not wird einmal mehr kalt geduscht. Aussitzen.

Den Luxus haben leider nicht alle Menschen. Während ich hier sitze und vor mich hin tippe, sterben Menschen an der Hitze und riesige Waldgebiete verbrennen. Und das bei uns um die Ecke, in Spanien, Frankreich und Italien, nicht in Australien oder Kalifornien wie bisher zumeist. Die Landwirtschaft ächzt unter der Trockenheit. Die wirtschaftlichen Schäden durch Hitze, Dürre und Fluten von 2000 bis 2021 wurden in einer gestern veröffentlichten Studie von Prognos auf mindestens 145 Mrd. Euro geschätzt, der Großteil davon in den letzten Jahren. Die Klimakrise ist da.

Dass ich hierzu wieder einmal ein paar Worte verlieren möchte, liegt daran, dass mir in der Kommunikation zur aktuellen Hitzewelle vor allem eins fehlt: die ehrliche Zukunftsaussicht. In den Nachrichtenmeldungen zur Hitze wird von neuen Rekorden berichtet, als wäre das eher positive Wort „Rekord“ hier angemessen. Was aber in meiner Wahrnehmung nicht allzu oft erwähnt wird: Das ist das neue Normal. Oder, um es etwas drastischer zu sagen, zitiere ich die guten alten Orsons:

„Alles am Arsch ist das neue Normal“.

Ich habe das Gefühl, wann immer in den letzten Jahren eine neue Krise aufkommt – Finanzen, Flucht, Corona, Russland oder eben Klima – denkt man automatisch: Das müssen wir lösen, dann geht das vorbei. Und augenscheinlich hat das auch ganz gut geklappt: die Finanzkrise 2008 wurde halbwegs beendet, indem die Staaten in den Markt eingriffen. Die humanitäre Krise von 2015 hat nicht so viele Umstürze in den Aufnahmeländern erzeugt wie befürchtet. Die Corona-Pandemie kann man überwiegend in den Griff bekommen, indem man Maßnahmen ergreift und Impfstoffe entwickelt. An der Beendigung des russischen Angriffskriegs und der Energiekrise in Europa wird Schritt für Schritt gearbeitet, und irgendwann ist es auch wieder Winter und nicht so heiß. Sind wir also jeweils mit einem blauen Auge davon gekommen?

Rhetorische Frage, ich weiß. Ich fürchte, nein. Wir sollten uns bewusster werden, dass Krisen keine temporären Phänomene mehr sind – wenn sie das jemals waren. Schließlich ist jede sogenannte ‚Krise‘ nur eine Ausprägung, ein Symptom von Tendenzen, die lange im Hintergrund schwelen. Wir können Symptome lindern, aber die grundlegenden Probleme bekommen wir so schnell nicht in den Griff. Die misslungenen wirtschaftlichen Mechanismen, politischen Konflikte und umweltschädlichen Praktiken, die unser Handeln allzu oft bestimmen, werden immer und immer wieder neue Krisen hervorbringen. Dieser Dauerkrisenmodus endet also nicht. Und ich bin nicht sicher, ob das allen so bewusst ist.

Donnerstagnacht, vier Uhr, ich scrolle doom (Geil, geil)
Wel-Wel-Welt geht unter, sag mir, was soll ich tun?
O-O-One-Click-Buy, ich kaufe Schuhe (Mh)
Coming soon (Oh)
Schließ‘ die Augen, seh‘ Gewehre voller Blum’n (Oh, oh, oh)

Die Orsons – Neue Normal

Wir sollten aus den letzten Jahren zwei zentrale Lehren ziehen:

  1. Es ist dringender denn je geboten, die Probleme an der Wurzel zu packen. Die Stärkung demokratischer Prozesse, ein schonender Umgang mit der Natur und eine neue Ausrichtung unserer Wirtschaftssysteme muss von Grund auf angegangen werden. Beim Klimaschutz sprechen wir hier von Mitigation – also Vermeidung.
  2. Gleichzeitig müssen wir aufhören, Krisen als singuläre Ereignisse zu betrachten und sie auch so zu behandeln. Sie sind alle miteinander verknüpft, und nicht mit einzelnen Hilfspaketen zu lösen. Stattdessen brauchen wir langfristig angelegte, realistische Anpassungsmechanismen für all diese genannten Herausforderungen. Um beim Klima zu bleiben: wir können es uns nicht mehr leisten, reine Fichtenwälder zu pflanzen, die vom nächsten Borkenkäfer wieder gefressen werden und Städte immer noch mit Parkplätzen zuzupflastern, die keinen Schutz vor der Hitze bieten und auf denen sich der Regen staut. Es geht also um Adaptation – die Anpassung an die neuen Realitäten. Wenn wir nicht all unser Handeln integriert und mit Blick in die Zukunft gestalten, werden uns diese Probleme immer, und immer, und immer wieder einholen. Und ich will nicht den Rest meines Lebens jedes Jahr hören müssen, wie krass das Wetter doch wieder ist, und dass man dem völlig hilflos entgegensteht.

Junge Dame, male mir Chemtrails, da und da auf meinen French-Nails
Hantelbank meine Psyche, am drücken wie ein Bekloppter
Bis aus weitester Ferne mein Sohn sagt:
„Papa, was heißt Atomschlag?“ (Papa, was heißt Atomschlag?)

Die Orsons -Neue Normal

An dieser Stelle möchte ich ein Video vom REHAU Forum Regenwassermanagement 2022 empfehlen – ja, hätte auch nicht gedacht, so einen Mitschnitt hier mal zu nennen. Aber im Video erklärt Meteorologe Karsten Schwanke, wie schlimm es tatsächlich um den Klimawandel steht, und vermutlich habe ich das so gut noch nicht erlebt. Er bringt dabei vor allem gut auf den Punkt, dass die Zahl 1,09°C – so viel Erderwärmung erleben wir bisher global – kaum ein Bild von den tatsächlichen Folgen vermitteln kann. Schließlich werden die Ozeane viel langsamer wärmer als die Landflächen, weshalb 1°C globale Erwärmung 1,9°C Erwärmung in Deutschland bedeuten, begleitet von enorm stärkere Starkregen, und deutlich krasseren Hitzewellen. Karsten Schwanke macht sehr deutlich: es wird unabwendbar schlimmer werden. Und das sollten wir wissen. Schaut also bitte mal ins Video rein.

Es ist eine beunruhigende Vorstellung, dass ich für den Rest meines Lebens vermutlich keinen Winter mehr erleben werde, während wir immer mehr Ernteausfälle, Hitzewellen und schwerste Stürme ertragen werden müssen. Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie meines Lebens gewesen sein, und wenn immer mehr Gegenden der Erde unbewohnbar werden, werden noch ganz andere Konflikte aufkommen. Und meine Sorgen in Deutschland sind zynisch der Welt gegenüber – wie gesagt, uns geht es noch gut.

In diesem Sinne schließe ich mit dem Refrain aus „Neue Normal“ von den Orsons. Vielleicht ist das die Hymne des 21. Jahrhunderts.

Und alles in Ordnung
In bester Ordnung
Ist so normal, ist so normal, wie es nur sein kann
Scroll weiter, gibt viel zu sehen
Alles in Ordnung
In bester Ordnung
Ist so normal, ist so normal, wie es nur sein kann, ja
Unser neues Normal
(Alles am Arsch, ist das neue Normal)
(Alles am Arsch, ist das neue Normal)

Die Orsons – Neue Normal
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Ein Kommentar zu „Das neue Normal

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