Ein Hinweis: im Podcast heißt der Text „Ab in den Kaninchenbau“, aber die andere Richtung sollte es sein.
Es gibt diesen Satz: Stop making stupid people famous. Ich könnte kaum mehr zustimmen, aber da ich niemanden berühmt machen könnte, selbst wenn ich es drauf anlege, gehe ich das Risiko ein.
Im Masterstudium in Lüneburg waren wir 30 Leute im Jahrgang. Man kannte sich. Wie in einer Schulklasse hatte man mit 10 Leuten mehr zu tun, mit 10 weniger, und mit 10 gar nichts. Unter den 10, mit denen ich weniger zu tun hatte, war Alina. Alina war mit mir in einer Gruppenarbeit im 3. Semester, sie war engagiert, an mehr erinnere ich mich eigentlich kaum. Außerhalb der Uni hat man sich hier und da mal gesehen, am präsentesten ist mir ein Grillabend, bei dem sie auch war, aber dazu komme ich gleich noch. Ich habe in den vergangenen Tagen ab und zu gedacht, “Gibt es eigentlich ein Foto, auf dem Alina und ich zu sehen sind? Und wenn ja, wie kann ich es vernichten?”
Wieso erzähle ich euch das?
Weil Alina seit ein paar Tagen 100,000 Abonnenten auf ihrem Telegram-Kanal hat – Zahlen, von denen ich hier nur träumen kann, aber Inhalte, die ich mir in meinen Albträumen nicht wünschen würde. Alina betreibt Propaganda für das russische Regime; etwas, das schon zu “normalen” Zeiten höchst fragwürdig wäre, und in der aktuellen Lage absolut untragbar ist. Innerhalb von Wochen ist ihre Reichweite um ein Mehrfaches gewachsen, und da die offiziellen Propaganda-Kanäle der russischen Föderation – zum Beispiel RT Deutsch – mittlerweile in Deutschland gesperrt sind, ist sie damit der größte Kanal dieser Art für ein deutsches Publikum.
Ich will in diesem Eintrag eigentlich gar nicht viel über Alina’s “Arbeit” berichten. Das ist in den letzten Tagen schon viel detaillierter an anderer Stelle geschehen, sie hat es immerhin in einen T-Online-Artikel, in einen Eintrag vom Volksverpetzer und in Walulis Daily geschafft. Spannend sind diese Berichte, damit auch sehenswert, für mich aber auch surreal und bedrückend. Denn während nur einige Autostunden von uns entfernt ein durch nichts zu rechtfertigender Angriffskrieg stattfindet, kenne ich eine Person, die genau diese Aggression rechtfertigt, und zwar konstant, mit den windigsten Begründungen, für alle zugänglich.

Quelle: YouTube/Walulis Daily
Alina hat dasselbe studiert wie ich: Nachhaltigkeitswissenschaft. Obwohl in der Berichterstattung über sie primär der Umweltaspekt davon hervorgehoben wird, ist Nachhaltigkeit nicht nur das, sondern hat eben auch eine starke normative, ethische Komponente: wie sollte die Welt sein? Man befindet sich in so einem Studium in einer Filterblase, in einem Umfeld, in dem irgendwie alle dieselben Antworten zu dieser Frage haben. Damit verliert man eine gewisse gesunde Distanz zu diesen Themen, und damit vielleicht den Bezug dazu, dass es auch andere Lebensrealitäten geben kann. Es ist aber auch schön, da man sich unter Gleichgesinnten fühlt in einer Welt, die oftmals nach anderen Grundsätzen handelt. Daher ist es jetzt umso ernüchternder, festzustellen, dass sich jemand aus ebendieser Gruppe offensichtlich grundlegend für eine andere Sicht auf die Welt entschieden hat – eine Sicht, die man beim besten Willen nicht nachvollziehen kann, oder nachvollziehen können möchte.
Alina nennt sich selbst “Friedensjournalistin” und möchte eine alternative Perspektive auf Russland bieten, die im Westen so nicht stattfinde. Das ist auf dem Papier löblich, denn nur durch solche Perspektivwechsel kann man das Verhalten anderer Menschen verstehen. Was Alina jedoch teilt, sind zu einem großen Teil nachweislich und offensichtlich Verzerrungen, Veränderungen und Verdrehungen der Wahrheit oder schlicht und einfach Lügen. Fake News waren 2016 mit der Präsidentschaft Donald Trumps ein Running Gag – dass sie gefährlich sind, sollten wir mittlerweile eigentlich wissen. Ob Alina selbst glaubt, was sie verbreitet, oder ob sie nur gut bezahlt wird, so zu tun, spielt am Ende kaum eine Rolle – beide Szenarien sind aus ganz verschiedenen Gründen nicht nachvollziehbar und das Ergebnis ist seit einigen Wochen noch gefährlicher als zuvor.
Bei dem angesprochenen Grillabend machte Alina damals kurz vor ihrer Verabschiedung mittels Flyer noch Werbung für eine Veranstaltung, die sich kritisch mit der 5G-Technologie auseinandersetzte. Ich hatte damals schon mitbekommen, dass 5G ein Streitthema ist, konnte diese Veranstaltung jetzt aber nicht groß einsortieren, und hätte eh nicht hingehen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Alina war halt irgendwo vernetzt und hat irgendwas mitorganisiert, ok. Jetzt im Nachhinein ergibt das Sinn: dass sie an irgendeine Verschwörung hinter Funktechnologie glaubte, scheint mir nicht mehr so absurd, wenn ich mir vor Augen führe, was sie täglich über Russland und den Westen postet, und was sie die zwei Jahre der Pandemie für wirre Behauptungen dazu online von sich gab. Eigentlich ist es erstaunlich, dass sie immerhin die Klimakrise als solche anerkennt, aber das wäre vielleicht auch zuviel der Ironie.
Jedenfalls wollte ich darüber eigentlich schreiben. Dass jemand, den man irgendwie kennt, in eine Richtung geht, die zwar komisch, aber noch nicht gefährlich zu sein scheint, nur um innerhalb kurzer Zeit tief in den Sumpf der Querdenker, Verschwörungsmythiker und Propagandisten zu rutschen, ohne Aussicht auf Rückkehr.
Vermutlich haben wir alle solche Menschen in unserem Umfeld. Entweder wissen wir gar nicht, welche Tendenzen jemand gedanklich hegt; wir nehmen es nicht wahr, bis es zu spät ist; oder wir tun es ab, um keine Konflikte heraufzubeschwören. Es ist nicht immer einfach, damit umzugehen, und man will ja auch andere Meinungen respektieren. Aber wie lange ist etwas einfach eine andere Meinung; ab wann ist eine Meinung nicht mehr akzeptabel; und was unterscheidet eine andere Meinung von einer falschen Meinung? Was können wir akzeptieren, und wann sollten wir unsere Einschätzung einer Person aktualisieren – vor allem bei Menschen, die wir eigentlich schätzen – oder von denen wir ganz lange ein anderes Bild hatten?
Die Folgefrage ist dann aber die eigentlich schwierige: was tun? Im Fall von Alina hat sich ein Freund, der mehr mit ihr zu tun hatte, zuletzt geäußert, er mache sich Vorwürfe, nicht rechtzeitig mehr versucht zu haben. Aber was kann man tun? In seinem Fall habe er den letztlichen Kontaktabbruch für sich damit begründet, dass er keine Hoffnung mehr sah, mit ihr irgendwie auf einen Nenner zu kommen. Ich halte es für völlig nachvollziehbar, dass man eine Person von sich stößt, wenn sie nicht mehr den eigenen moralischen Standards zu entsprechen scheint, und man keine gemeinsame Basis für eine Diskussion sieht. Kann man sich vorwerfen, sich selbst schützen zu wollen? Oder verstärkt man damit nur seine eigene Filterblase? Und selbst wenn wir für uns selbst bei Mitmenschen eine Überschreitung von der “anderen” hin zur “falschen” Meinung feststellen – sollten wir nicht gerade dann versuchen, diese Menschen vor dem unendlich tiefen “Kaninchenbau” zu bewahren, anstatt sie von uns zu weisen? Aber kann man so etwas überhaupt erahnen? Ab wann greift man ein?
Ich bin schlecht darin, zu kontroversen Themen in die Konfrontation zu gehen. Man hält seine eigene Meinung ja immer für die richtige, ich blase meine Gedanken ja sogar ins Internet in einem Format, das nicht unbedingt zum Diskurs anregt abgesehen von den ungenutzten Kommentarspalten. Aber mit meinen Texten hier erreiche ich ja eh niemanden, der sich nicht eh schon für meine Themen interessiert und tendenziell ins selbe Horn bläst.
In der vergangenen Woche wurde weltweit gegen Vieles demonstriert, drei davon habe ich quasi im selben Satz mitbekommen: eine Demo gegen die Corona-Impfungen am Montag, eine gegen den Ukraine-Krieg am Donnerstag, und dann der globale Klimastreik am Freitag. Themen, die erst einmal unterschiedlicher kaum sein könnten, die aber mindestens auf den zweiten Blick nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Wir erkennen in den letzten Jahren vielleicht mehr als je zuvor, wo uns unsere globalisierte Welt hingebracht hat, leider mehr im Schlechten als im Guten. Unser Wohlstand ist auf Kosten anderer Menschen, aber auch der Natur entstanden, die sich mit einer mittlerweile zweijährigen Pandemie bedankt. Wir befeuern die Umweltzerstörung immer weiter, um diesen Wohlstand aufrecht zu erhalten, und haben uns dabei so abhängig von einzelnen Regionen gemacht, dass wir nicht in der Lage sind, uns von ihnen zu trennen, wenn sie Unverzeihliches tun. Dass Robert Habeck mal nach Katar fliegen würde, um dort eine Alternative zu russischem Gas und Öl zu verhandeln, hat er sich sicher auch anders vorgestellt. Nach der Krise ist vor der Krise, und uns geht’s ja noch gut im Vergleich zum Rest der Welt. Alles hängt zusammen, das kann ich nur als Kern des Nachhaltigkeitskonzeptes wiederholen, und deshalb irren wenige, aber doch zu viele Menschen von einer Verschwörung in die nächste, denn am Ende des Tages sind auch die wirrsten Weltanschauungen miteinander verknüpft.

Quelle: Volksverpetzer
Wir machen uns oftmals zurecht über den Wendler, den Hildmann, den Naidoo lustig, oder ärgern uns darüber, dass Nena jetzt auch so durchdreht. Gleichzeitig beeinflussen diese Menschen aber andere Menschen in unserem Umfeld, und Telegramkanäle spucken eine unendliche Flut an Informationen aus, deren Wahrheitsgehalt zu ergoogeln zehnmal so lange dauert wie sich das ursprüngliche Video anzuschauen. Und da haben wir noch gar nicht über Deepfakes gesprochen. In solchen unsicheren Zeiten, in denen wir von einer Krisensituation in die andere stolpern, möchte ich doch niemandem vorwerfen, manchmal Wahr und Unwahr zu verwechseln und den Überblick zu verlieren. Ich hab auf den ersten Blick Alinas Postings auch nicht einsortieren können, bis dann Fox News als Quelle angegeben war, was für mich auf einen Schlag alles hat substanzlos werden lassen. Niemand von uns hat die Wahrheit gepachtet. Dennoch dürfen wir nicht zulassen, dass wir gerade jetzt fahrlässig mit dem umgehen, was wir als unverhandelbar betrachten.
Ich neige manchmal dazu, zu denken, ein Teil unserer Gesellschaft – vielleicht ein Prozent – sei halt in diesen Informationsstrudeln verloren, da kann man nichts machen. Alina ist laut laut eigener Aussage schon 2014 skeptisch über die westliche Perspektive auf Russland geworden, und eine gewisse Skepsis kann man ihr als jemand mit russischen Wurzeln auch gar nicht verwehren. Ich kannte Alina 2014 noch nicht, könnte mir daher also sagen, “das war vor meiner Zeit”, aber vielleicht hätte auch ich noch 2017 mehr hinhören müssen. Wer weiß.
Ich denke, wir können uns nur vornehmen, mehr auf Andere zu achten; nachzufragen, wenn uns etwas komisch vorkommt; und zu versuchen, Quellen heranzuziehen, denen wir tatsächlich vertrauen können. Was Wahr ist und was Unwahr, ist manchmal eine Frage der Perspektive, meistens aber auch nicht, und es muss den Aufwand wert sein, diesen Unterschied auszumachen. Das trifft auf die Wirkungen von Impfungen zu, auf die Funktionsweise unserer Natur, oder auf politische Konflikte, so schwer es manchmal sein mag. Die nächsten Jahrzehnte werden ja nicht einfacher.
Ungenutzte Kommentarspalte? Das müssen wir sofort ändern 🙂
Danke für das Teilen dieser Geschichte, ich habe von „Alina“ tatsächlich das erste Mal gehört. Ich bin ein Stück weit sprachlos, kenne aber auch dieses Ohnmachtsgefühl, nichts tun zu können, wenn es um Menschen geht, die sehr tief im Falschinformationssumpf stecken.
Danke für das schöne Format. Meistens denke ich noch sehr lange über die Dinge nach, die du hier teilweise nur kurz ansprichst. Ich mag das Format!
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