Im Juni 2020 schrieb ich in “Die Dekade des Handelns – Umbruch 2020?” darüber, welche Rolle das Jahr 2020 für nachhaltige Entwicklung spielen könnte. Nun veröffentlichte die deutsche Bundesregierung am 10. März 2021 die neue Fassung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie als Wegweiser für die nächsten zehn Jahre. Und weil das in der Öffentlichkeit niemand mitbekommen hat, kaum jemand darüber berichtet hat, und sich das vermutlich kaum jemand durchliest, habe ich das mal getan. Zugegeben: ich beziehe mich auf die Kurzfassung von 34 Seiten. Die Fassung von 388 Seiten war auch mir etwas zu lang.
Also: was ist die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie?
Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (‚DNS‘) wurde erstmals 2002 aufgelegt und seitdem alle vier Jahre überarbeitet; zuletzt 2016, als sie an der Agenda 2030 der Vereinten Nationen ausgerichtet wurde – mehr dazu gleich. Wegen Corona hat sich der Überarbeitungsprozess etwas verzögert, aber jetzt ist die neueste Fassung da. Die DNS soll die Grundlage für die nationale wie internationale Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung in den nächsten Jahren bilden und stellt ein “lebendes” (S.8) Dokument dar, das unter unter Beteiligung von BürgerInnen und Organisationen überarbeitet wird, wissenschaftliche Reviews erfährt, und angesichts aktueller Veränderungen angepasst wird. Beispielsweise hatten wir ja letztes Jahr eine Pandemie und davor einen starken Fokus auf Klimapolitik, und das schlägt sich jetzt in der Strategie nieder. Schauen wir also rein.
Die DNS 2021 beginnt zunächst mit der Feststellung, dass die derzeitige Nachhaltigkeitspolitik nicht genug ist:
“Im September 2019 haben die Staats- und Regierungschefs auf dem SDG-Gipfel in New York festgestellt, dass die SDGs im Jahr 2030 nicht erreicht werden, wenn sich aktuelle Trends fortsetzen.” (S.3)
und dann
“Das bisherige Handeln reicht bei weitem nicht aus, um einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen.” (S.4)
Das ist wichtig. In der Schule hieß es schließlich auch immer, “Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung”.
Das Dokument beschreibt dann, was Deutschland tut, um nachhaltige Entwicklung voranzutreiben. Das betrifft erst einmal die Rolle Deutschlands in der Welt, wo sich die DNS zu internationaler Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit, einer globalen Menschenrechtsperspektive und Rechenschaft über deutsche Fortschritte bekennt. Hier wird auch die Arbeit der EU angesprochen, die Deutsche Ratspräsidentschaft 2020 mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit, sowie der 2019 vorgestellte Green Deal. Über den hab ich ja schon mal geschrieben. Auf nationaler Ebene wird danach vor allem das Zukunftspaket angesprochen, das im Corona-Hilfspaket von Juni 2020 steckte und mit 50 Mrd. Euro “die Modernisierung Deutschlands und seiner Rolle als weltweiter Exporteur von Spitzentechnologien insbesondere durch digitale Zukunftsinvestitionen und Investitionen in Klimatechnologien stärken” soll (S.6). Die DNS beschreibt die Arbeit Deutschlands hier recht nüchtern – eine Einschätzung zu dieser kann man ja selbst vornehmen.
Dann wird es endlich spannend – die Strategie selbst wird skizziert. Schnallt euch an.
Unter ‚Nachhaltigkeit‘ versteht die Bundesregierung zunächst einmal, “den Bedürfnissen der heutigen sowie künftiger Generationen gerecht zu werden – in Deutschland sowie in allen Teilen der Welt – und ihnen ein Leben in voller Entfaltung ihrer Würde zu ermöglichen.” (S.7). Sie setzen dabei als Leitprinzip die Triple Bottom Theory voraus – das Zieldreieck der Nachhaltigkeit. Hiernach sollen für nachhaltige Entwicklung Wirtschaft, Soziales und Umwelt miteinander vereint werden. Das stellt das meist zitierte Verständnis von Nachhaltigkeit dar. Seit 2016 dienen aber vor allem die Sustainable Development Goals aus der Agenda 2030 der Vereinten Nationen als Grundlage der DNS.
Sustainable Development Goals? Agenda 2030? Hilfe?
Zur Erinnerung: Die Agenda 2030 wurde 2015 von den Vereinten Nationen beschlossen und stellt einen (rechtlich unverbindlichen) Plan dar, um bis 2030 die Welt nachhaltiger zu gestalten. Der wichtigste Grundsatz ist dabei Leave No One Behind, und die fünf Grundprinzipien lauten People, Planet, Prosperity, Peace, Partnership. Etwas konkreter als das sind die 17 Nachhaltigkeitsziele mit 169 Unterzielen, die mithilfe von 232 Indikatoren gemessen werden. Zu den Zielen gehören beispielsweise Life on Land, Reduced Inequalities oder No Poverty, und sie hängen alle miteinander zusammen. Mehr zur Definition von Nachhaltigkeit findet ihr auch in meinem Blog-Post: Was ist eigentlich… Nachhaltigkeit?
Die DNS macht sich die 17 Nachhaltigkeitsziele nun zu eigen, allerdings sind sie der Bundesregierung etwas „weit gefasst” (S.7). Daher wurden 2018 sechs eigene Prinzipien als Grundlage für die Arbeit der Ministerien und Gesetzesgebung festgelegt:
- Nachhaltige Entwicklung als Leitprinzip konsequent in allen Bereichen und bei allen Entscheidungen anwenden
- Global Verantwortung wahrnehmen
- Natürliche Lebensgrundlagen erhalten
- Nachhaltiges Wirtschaften stärken
- Sozialen Zusammenhalt in einer offenen Gesellschaft wahren und verbessern
- Bildung, Wissenschaft und Innovation als Treiber einer nachhaltigen Entwicklung nutzen
Diesen Prinzipien folgend, strebt die DNS nun ein Ziel an: ein ’nachhaltiges Deutschland‘. Das stellt man sich dabei wie folgt vor:
“Ein „nachhaltiges“ Deutschland muss ein fortschrittliches, innovatives, offenes und lebenswertes Land sein. Es zeichnet sich durch hohe Lebensqualität und wirksamen Umweltschutz aus. Es integriert, ist inklusiv und grenzt nicht aus, schafft Chancen für eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Es nimmt seine internationale Verantwortung wahr.” (S.7)
Ich mag dieses Zielbild, da es eine positive Vision darstellt. Es ist ein Deutschland, in dem man – ich zumindest – gerne leben möchte. Es ist kein Rückschritt, kein Verzicht, keine Verschlechterung zum Status Quo, sondern eine Fortführung guter Entwicklungen. “Lebenswert” steht sogar im ersten Satz. Ich halte das für wichtig, damit nachhaltige Entwicklung nicht als Bürde, sondern als Chance wahrgenommen wird. Mehr zum Thema “Zukunftsvisionen” findet ihr in meinem Beitrag vom Oktober 2020.
Die DNS wird dann konkretisiert: sie umfasst Ziele in 39 Bereichen, deren Erreichung mittels 72 Indikatoren gemessen werden. Das macht das Statistische Bundesamt regelmäßig und erklärt dann alle zwei Jahre, ob wir uns für jeden Indikator in die richtige Richtung bewegen. Das drücken sie übrigens in Sonnen- oder Regenwolken-Symbolen aus – hier mal ein Beispiel zu SDG 5 (Geschlechtergleichstellung):

Übrigens wurden von 12 Zielen, die explizit bis 2020 erreicht werden sollten, nur 4 erreicht: je zwei im Bereich Bildung sowie erneuerbarer Energien.
Jetzt hatten wir Nachhaltigkeitsverständnis, Grundprinzipien, Zielbild und Indikatoren, fehlen noch Transformationsbereiche. Derer stellt die DNS sechs auf, und sie stehen für wichtige Handlungsbereiche, die jeweils eine Handvoll verschiedener Nachhaltigkeitsziele verknüpfen. Diese Transformationsbereiche sind:
- Energiewende und Klimaschutz
- Kreislaufwirtschaft
- Nachhaltiges Bauen und Verkehrswende
- nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme
- schadstofffreie Umwelt
Da kann man gar nicht viel zu sagen. Sicherlich sinnvolle Gruppierungen, aber letztlich könnte man sie auch anders zusammenfassen. Die Transformationsbereiche zeigen aber schön, wie die SDGs zusammenhängen, und dass Themen nicht isoliert betrachtet werden können.
Was bei all diesen Elementen der DNS 2021 auffällt, ist der große Glaube an Innovation und neue Technologien. Diese werden als wichtiger Bestandteil des Zukunftspakets vorgestellt, als sechstes Nachhaltigkeitsprinzip, oder auch als wichtige Säule im Transformationsbereich “Verkehrswende”. Deutschland ist ja immer gern das Land der Tüftler und Ingenieur*innen, fair enough – gleichzeitig scheut sich die Bundesregierung hier davor, das ungeliebte Thema Verhaltensveränderungen – oder gar Verzicht – anzusprechen. Nur einmal wird direkt auf die Bedeutung individueller Konsumentscheidungen hingewiesen (S.10). Nachhaltige Entwicklung ist in der DNS vor allem eine technisch-verwalterische Herausforderung.
Abschließend werden dann praktische Maßnahmen und Zuständigkeiten aufgezeigt.
Zu wichtigen Instrumenten bei der Umsetzung der DNS zählen beispielsweise eine Nachhaltigkeitsprüfung für jeden Gesetzesvorschlag, eine nachhaltige Beschaffung und Verwaltung in Behörden, oder die Kommunikation der DNS. Es werden zudem fünf Hebel für die Erreichung der Ziele genannt: Governance, Gesellschaftliche Mobilisierung und Teilhabe, Finanzen, Forschung sowie Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit.
Strukturell wird vor allem das Zusammenspiel aus Bund, Ländern und Kommunen hervorgehoben, sowie die Beteiligung gesellschaftlicher Akteure an der Umsetzung der Strategie. Hierzu zählen eine Dialoggruppe mit 15 Institutionen, das jährliche Nachhaltigkeitsforum, sowie die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030. Zudem soll gesellschaftliches Engagement ab Sommer 2021 stärker unterstützt werden, denn:
“Eine erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 und der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist nur denkbar, wenn sie gesellschaftlich breit unterstützt und aktiv mitgetragen wird.” (S.15)
Und damit sind wir an einem wichtigen, vielleicht dem wichtigsten Punkt angelangt. Die DNS soll die Grundlage für die “notwendige Stärkung der Nachhaltigkeitspolitik für die Dekade des Handelns” (S.8) sein. Schließlich sei der Auftrag klar: “Wir müssen jetzt die Weichen für ein Jahrzehnt der Nachhaltigkeit stellen!” (S.3). Und bereits auf Seite 1 steht: “Um die Ziele der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und der Agenda 2030 zu erreichen, müssen wir den Weg einer wirklich anspruchsvollen Transformation gehen (…).”
Eine wirklich anspruchsvolle Transformation. Das ist absolut richtig, denn nichts Anderes steht uns – und der ganzen Welt – bevor, wenn wir die Agenda 2030 ernst nehmen wollen. Aber ist das allen Deutschen bewusst? Und haben das alle Politiker*innen auf dem Schirm?
Deutschland, wie fast alle Länder der Welt, hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht genug für nachhaltige Entwicklung getan, die ja nun seit den 1980ern auf dem Plan steht. Daher werden (leider) die nächsten zehn Jahre für viele Themen entscheidend sein müssen. Das ist etwas, das mich persönlich enorm motiviert, das aber auch aufzeigt, welch gewaltige Umwälzung unserer Gesellschaft schon bald bevorsteht. Im Jahr 2030 sollte die Welt anders aussehen, sonst verbauen wir uns viel für den Rest des Jahrhunderts. Insofern muss auch 2020 im Rückblick eine Zäsur darstellen, und den Beginn einer neuen Phase. Nur wird diese neue Phase große Veränderungen mit sich bringen, die zu Konflikten führen; die haben wir ja jetzt schon. Das Wuppertal Institut hat schon vor Jahren von der “Großen Transformation” gesprochen, aber so langsam muss sie konkret eintreten: die Verkehrswende, die Energiewende, die Agrarwende, und soviel mehr. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist eine potente Grundlage dafür, aber sie muss zu konkreten Maßnahmen führen, die breite gesellschaftliche Unterstützung erhalten.
Und deshalb ist auch 2021 so ein wichtiges Jahr, in dem nicht nur Dieter Bohlen und Joachim Löw abtreten, sondern eben auch Angela Merkel. Ein Jahr, in dem wir eine*n neue*n Bundeskanzler*in bekommen, der oder die sich ernsthaft der Dekade des Handelns annehmen muss und ausreichend große Teile der Deutschen – und der Welt – darin vereinen können muss, dies auch zu tun.
Man kann sich bei den wohlklingenden Strukturen und Plänen in der DNS manchmal fragen, wieso immer noch so oft Entscheidungen getroffen werden, die sich mit der Agenda 2030 eigentlich nicht vereinbaren lassen. Im Juli 2021 wird Deutschland den zweiten Voluntary National Review – quasi den Sachstandsbericht zum Nachhaltigkeits-Fortschritt in Deutschland – bei den Vereinten Nationen vorstellen. Dieser dürfte angesichts der letzten Jahre, und trotz allen Fortschritts, recht ernüchternd ausfallen, und sollte der Politik – und uns – als Ansporn dienen, es besser zu machen. Nehmen wir die Nachhaltigkeitsstrategie mit ihren dringlichen Appellen beim Wort. Die Zeit läuft.
Links und weiterführende Informationen
- Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021 als Lang- und Kurzfassung: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/nachhaltigkeitsstrategie-2021-1873560
- Das Monitoring des Statistischen Bundesamtes: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Deutsche-Nachhaltigkeit/_inhalt.html
- Wissenschaftsplattform 2030: https://www.wpn2030.de/
- Forum Nachhaltigkeit der Bundesregierung: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/forum-nachhaltigkeit-2020-1800086
- Rat für Nachhaltige Entwicklung: https://www.nachhaltigkeitsrat.de/
- Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung: https://www.bundestag.de/nachhaltigkeit
- Agenda 2030 & Sustainable Development Goals: https://www.un.org/sustainabledevelopment/ sowie https://www.bmz.de/de/themen/2030_agenda/index.html
- High Level Political Forum (wo Deutschland sich im Rahmen der Vereinten Nationen mit Nachhaltigkeit auseinander setzt): https://sustainabledevelopment.un.org/hlpf/2021
- Voluntary National Reviews aller Staaten gegenüber den Vereinten Nationen: https://sustainabledevelopment.un.org/vnrs/